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Schlechtes Gewissen...

Schlechtes Gewissen...

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Stefan Schwetje


Premium (World), Braunschweig

Schlechtes Gewissen...

Anfang August 1944 fingen die Nazis an, auch die Zigeuner als „Artfremde“ auszurotten. Eines Tages, nach Anbruch der Dunkelheit, rollten in den späten Abendstunden Lastwagen auf den Hof des Krematoriums V. Zigeuner, die im Lagerbereich BIIe verblieben waren und diese Nacht vergast werden sollten, waren auf die Ladeflächen gepfercht worden. Auf den Trittbrettern standen SS-Leute, die den Todeskonvoi begleiteten. Nachdem die Fahrzeuge angehalten hatten, sprangen sie herunter und öffneten hinten die Ladeklappen. Die Menschen, es waren vielleicht Dreihundert, sprangen nun herunter und wurden durch einen von bewaffneten SS-Posten gebildeten Korridor in den Auskleideraum getrieben. Währenddessen fuhren die Lastautos wieder zurück, um neue Menschenfracht heranzutransportieren. Das wiederholte sich noch zwei- oder dreimal, bis sich gegen Mitternacht mehr als 1.000 Menschen im Auskleideraum des Krematoriums V befanden. Nach einiger Zeit tauchten auch Angehörige der SS-Prominenz auf. Unter ihnen befanden sich der Kommandant des Lagers Auschwitz II, Kramer, Lagerführer Schwarzhuber, einige SS-Ärzte und noch andere SS-Führer. Auch Moll, der die Vernichtungsaktion leitete, lief mit seinen Untergebenen geschäftig herum und gab Anweisungen und Befehle.
Im Auskleideraum herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Die Zigeuner, die vergast werden sollten, kannten viele der herumstehenden SS-Leute schon seit längerem und versuchten deshalb, wie sie es gewohnt waren, mit ihnen in ein Gespräch zu kommen. Ihr Verhältnis zur SS war im Laufe der Zeit fast so etwas wie vertraulich geworden. Das lag wohl daran, dass sie fast alle Deutsch sprachen, vielleicht auch daran, dass es für die SS-Leute keinen plausiblen Grund gab, Zigeuner zu hassen. Vielleicht hatte auch die dem Wesen der Zigeuner eigene optimistische Lebensauffassung, die sie selbst im Lager nicht davon abhielt, ihren Gewohnheiten nachzugehen, auch leidenschaftlich und temperamentvoll zu musizieren, dazu beigetragen, dass sich die SS-Leute ihnen gegenüber wohlmeinender verhielten. Doch jetzt im Auskleideraum gaben sie sich kühl und abweisend. Wenn sie angesprochen wurden, stellten sie sich taub und reagierten nicht auf Fragen und Gesten. Dadurch wurden die Menschen ihrer letzten Illusionen beraubt. Sie ahnten, was man mit ihnen vorhatte, und bäumten sich deshalb nochmals verzweifelt gegen das Schicksal auf, das man ihnen zugedacht hatte.
Der Auskleideraum war gegen Mitternacht voll von Menschen. Die Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Man hätte glauben können, dass man sich in einem riesigen Bienenstock befand. Von allen Seiten waren verzweifeltes Schreien, Jammern und vorwurfsvolle Anklagen zu hören. Sprechchöre wurden laut: „Wir sind doch Reichsdeutsche ! Wir haben nichts verbrochen !“ Woanders riefen die Menschen: „Wir wollen leben ! Warum wollt ihr uns umbringen ?“
Noch etwas Ungewöhnliches, was ich noch niemals zuvor in diesem Wartesaal des Todes gesehen hatte, konnte ich heute beobachten. Ich wurde Zeuge, wie zahlreiche Männer ihre Frauen fest umklammert hielten und, krampfhaft an sie gepresst, wie untrennbar verschmolzen, leidenschaftlich, aber verzweifelt, sich ein letztes Mal geschlechtlich vereinigten. Es schien, als ob sie auf diese Weise von dem Liebsten, das sie auf Erden hatten, aber zugleich auch von ihrem eigenen Leben Abschied nehmen wollten.
Den meisten SS-Leuten konnte man ansehen; das sie heute ein schlechtes Gewissen hatten. Während sie bei der Vergasung oder Erschießung von Juden, deren Tötung für sie alle schon zur täglichen Routine geworden war, so gut wie keine Skrupel zeigten, ging die heutige Mordaktion den meisten an die Nieren. Die befohlene Vergasung dieser Menschen war ihnen offensichtlich unangenehm und peinlich. Nur schwer konnten manche so etwas wie Schamgefühl verbergen, das sie vielleicht empfanden, weil sie heute an der Vernichtung von Menschen mitwirkten, mit denen sie bisher ganz gut ausgekommen waren und gegen die sie nichts gehabt hatten.
Aber für Sentimentalitäten war an diesem düsteren Ort kein Platz…

(Quelle: Sonderbehandlung von Filip Müller)


Das Foto zeigt die Überreste des gesprengten Krematoriums II im Vernichtungslager Birkenau.
Dort waren mein Freund Joachim Irelandeddie und ich im Dezember 2016 zu gegen...

Mehr:
http://www.fotocommunity.de/user_photos/1694560?sort=new&folder_id=671134

Original :

Ein Tag im Vernichtungslager (7)
Ein Tag im Vernichtungslager (7)
Stefan Schwetje




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