15.604 13

RinaldoG


Premium (World), Immenstadt

Zieräpfelchen

Vor gut einer Woche schenkte mir meine Frau diesen Zweig mit Zieräpfelchen.
Sie stehen nun auf meinem Schreibtisch. Verströmen Wärme ...

Und sie riefen mir die Zeit vor gut 25 Jahren in Erinnerung, als wir uns nach Jahren wieder fanden.
Dieses Wiederfinden hielt ich damals schriftlich fest. Später veränderte ich den Text so, dass ich allzu Privates strich und die Erzählung in die 3 Person transformierte.
Die Geschichte heißt:

ALLERHEILIGEN

Dann kam er auf die Idee, seine Frau zu besuchen. Zum ersten Mal wieder nach zweieinhalb Jahren. Er kaufte also in der BLV einen kleinen Kaktus, so einen, der auf dem Stamm eine karminrote Kugel balanciert, und fuhr nach Immenstadt.
Eigenartigerweise waren vor den Parkplätzen ausgerechnet heute, kurz vor Allerheiligen, Halteverbotsschilder aufgestellt, was ihm so unsinnig erschien, dass er sich nicht daran hielt. Er nahm seinen Kaktus aus dem Handschuhfach und versteckte ihn halb in der hohlen Hand, weil er sich nun doch ein wenig für seinen Einfall genierte. Es waren viele Menschen unterwegs.
Vorbei an dem Mann aus grünspanüberzogener Bronze, der ein offensichtlich schweres Kreuz geschultert hatte, ging er zur zweiten Reihe und stellte die Pflanze auf die geriffelte, unebene Grabplatte. Das Kaktustöpfchen wackelte, so dass er eine ebenere Stelle ausfindig machte.
Hier war Annas Asche beigesetzt, hier lagen ihre Großeltern und ein Onkel.
Er richtete sich wieder auf.
Wehmut: Sie hatten es nicht leicht miteinander gehabt.
Die rote Kaktuskugel hob sich fröhlich von der grauen Platte ab.

Aus der Grabreihe nebenan leuchtete ebenfalls etwas Rotes, heller in der Tönung, fast orange, gesprenkelt mit Lichtreflexen der freundlichen Nachmittagssonne. Beim Bücken und Arbeiten, um altes Laub von der Grabstätte zu entfernen, fielen die Haare wohl nach vorne, denn sie wurden immer wieder mit einem kräftigen Ruck nach hinten geschleudert.
Er wollte gerade gehen, da erhob sich die Frau, streckte sich und drehte sich um.
„Ach, du bist´s, von hinten habe ich dich überhaupt nicht erkannt.“
Sie begrüßten sich.
„Da sind wir ja sozusagen Nachbarn.“
„Ja, aber das sind nur die Angeheirateten.“
„Bei mir auch. Dann sind wir also sozusagen Angeheiratete-Grabstätten-Nachbarn.“
Sie lachten und schwiegen dann.
„Wenn du Lust hast, eine halbe Stunde zu warten … Ich mach das Grab hier gar fertig, und dann muss ich noch zu unserm Familiengrab…“
Er schaute an dem Bronzemann vorbei. Zwischen ihm und dem flammenden Laub eines Ahorns zeigte der Ziegelschornstein der nahen Fabrik in den Himmel.
„Aber nur, wenn es dir passt …“
„ … nein, heute passt es mir nicht so. Ich muss noch Aufsätze korrigieren: Am Ende des 2. Jahrtausends – zwischen Angst und Hoffnung.“
Sie lachte, er lachte mit.
„Und dann will ich noch zum Arzt, mir ein Antibiotikum gegen meine Allerheiligen-Bronchitis verschreiben lassen.“
Schließlich vereinbarten sie, sich in zwei Tagen morgens um 9 Uhr zu treffen, denn der Wetterdienst hatte für diesen Tag das Ende der Schönwetterperiode vorausgesagt, verursacht durch ein gegen Abend den Alpenrand erreichendes Regenwolkenband mit nachfolgender Kaltluft.
Sie wollten zunächst dem Friedhof einen Besuch abstatten und dann eine Wanderung vom Hochgrat auf den Hochhädrich und zurück nach Steibis unternehmen.

Maria saß schon in der Morgensonne auf dem Bänkchen. Sie überreichte ihm drei Zweige mit bunten Blättern, teils noch im Saft, teils schon verdorrt, andere in jenem farbenfrohen Übergangsstadium. Und Früchte hingen daran, etwas mehr als kirschgroß, in den unterschiedlichsten Rottönen.
„Oh, sind die schön!“ Er legte sie behutsam in den Kofferraum.
An der Hochgratgipfelstation war es kalt.
Der Nebel zog von Südwesten aus dem Tal hoch und brodelte um den Bergkamm, den sie nun etwa vier Stunden lang verfolgen würden.
Wer den Weg kennt, weiß, dass er weite Ausblicke bietet, dass er aber auch häufig knapp am Grat verläuft. Er ist bei Nässe wegen des abgerundeten, ungriffigen Nagelfluhs, wegen des schmierigen Mergels und wegen der glitschigen Baumstämme mit Vorsicht zu begehen. Wer sehen will, muss stehen bleiben.
Sie sahen wenig, tappten durch die ziehenden Nebel, setzten vorsichtig Fuß vor Fuß. Mehrfach war das Rutschen auf dem Hosenboden die sicherste Fortbewegungsweise.

Gegen ein Uhr machten sie Mittagspause.
Der Nebel verschonte wunderbarerweise diesen Abschnitt des Grates.
Sie suchten sich ein windgeschütztes Plätzchen. Maria hatte für eine gute Brotzeit gesorgt, so dass er seine, um einiges dürftigere, wieder einpackte.
Im Westen lag ein weites Nebelmeer. Dort war der Bodensee.
Durchs Tal von Bregenz her schob sich der Nebel hoch bis Siebratsgfäll.
Der Ort war dicht bedeckt und nicht zu sehen, doch aus dem dichten Weiß ertönte opulentes Kirchenglockengeläute.
Am Eingang des Lecknertales stoppte die Nebelflut. Hier war freier Blick auf den Talgrund. – Doch erstaunliches Phänomen: Aus dem Nichts bildete sich ein Nebelflöckchen, faserte seitlich aus, trieb das Tal entlang, war nun schon zu einem Nebelfetzen geworden, der sich zusehends vergrößerte und im Aufwind an Geschwindigkeit zunahm, sich an den Südhang des Höhenzuges schmiegte, ihn behend hochklomm und im Bereich des Hochgrats sich ins bewegte Gewölk einfügte.
Inzwischen war die nächste Nebelflocke schon wieder am Ausfasern, und das erregende Schauspiel begann von neuem.
Er sah wie gebannt zu.
Dann ließ er den Blick weiterschweifen.
Hier und da war zwischen den allenthalben ausgebreiteten, weißen Hochnebelballungen ein bekannter Gipfel zu erkennen, war in der nächsten Minute schon wieder verdeckt, ein anderes Bergmassiv tauchte auf, ließ sich wieder schlucken, der ganze südliche Horizont war in ständiger Bewegung.
Die Kirchenglocken schwiegen mittlerweile, und aus dem Tal erklangen die hellen Schellen der Kühe, die noch jetzt, am 1. November, hier weideten.
Die Brotzeit tat ihnen gut, das kernige Brot mit Schinken, das Ei, die süßen, blauen Trauben, der warme Schwarztee. Aber für ein kurzes Schläfchen war es zu fröstelig. So ließen sie gemeinsam den Blick schweifen und erzählten sich, was sie sahen.
Im Südwesten, Richtung Vorarlberg und Schweiz also, herrschte noch Föhn. Die Berge standen in silbernem Dunst. Die angekündigte Kaltfront sollte ja auch von Norden kommen. Vorboten des Wetterumschwungs kündigten sich jedoch bereits an in Gestalt unscharf geränderter Eiswolken, die nahezu bewegungslos und stahlgrau im Silber lagen.
Und darüber ein Baldachin aus ganz blassem Aquamarin, betupft mit unzähligen Schäfchenwolken.
Der goldene Oktober hatte einem silbernen November weichen müssen.
„Da liegt schon viel Abschied drin“, sagte Maria.
Er wusste im Moment nichts zu sagen, so voll war er des unaufhörlichen Wechsels und des silbernen Glanzes.

Ihr fiel das Absteigen schwer. Sie hatte Schmerzen in den Knie- und Hüftgelenken.
An einer Hütte machten sie auf einer Bank Rast.
Sie zog zwei Flacons mit Rotwein aus ihrem Rucksack. Obwohl nicht auf Zimmertemperatur, wie sie feststellte, verursachte er im Bauch eine wohlige Wärme.
Beim weiteren Abstieg hatten sie sich viel zu erzählen. Ein Menschenleben birgt viel Eigenartiges, und wer will das schon hören; außer man ist sich vertraut.
Die letzten eineinhalb Stunden bis zum Auto war es bereits stockdunkel.

Sie unterhielten sich noch geraume Zeit beim gemeinsamen Abendessen.
Zwischendurch spielten sie auch das Kinderspiel, wer dem andern länger in die Augen schauen kann. Na, und dann lachten sie.

Beim Abschied fanden sich zwei Lippenpaare. Zwei Oberkörper drückten sich aneinander. Für einen Augenblick war ein beiderseitiges Zögern wie ein erwartungsvolles Luftanhalten zu spüren. Dann lösten sie sich voneinander.

Vor dem Haus empfingen sie Sturm und Eisregen und drängten sie nochmals zueinander.
Da stand sie, hier fuhr er durch den Regen davon.

Auf seinem Wohnzimmertisch steht eine Flasche, die hat er zu zwei Dritteln mit Tongranulat gefüllt, damit sie nicht umkippt.
In ihr stecken die drei Zweige mit den bunten Blättern, teils noch im Saft, teils schon verdorrt, andere in jenem farbenfrohen Übergangsstadium.
Und dazwischen leuchten die Zieräpfelchen in den unterschiedlichsten Rottönen.
Verströmen Wärme.

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